Wandel in Zeiten der Krise
„Wer hätte das je für möglich gehalten?“ Kaum zuvor haben wir uns diese Frage so oft gestellt, wie im Jahr 2020: Der Mundschutz-auf-Mundschutz-Kuss, Klopapier-Diebstähle, digitale Weihnachtsfeiern. Wie oft haben wir uns verwirrt die Augen gerieben, als die Welt, in der wir aufwachten eine vollkommen andere war, als die Welt, in der wir schlafen gegangen sind?
Kaum zuvor wurden Wirtschaft und Gesellschaft dermaßen gefordert. Wir haben beobachtet, wie unsere Demokratie unter den Druck von Notstandsverordnungen und „Querdenkern“ geriet. 2020 hat uns aber auch den Beweis geliefert, dass wir alle Möglichkeiten und alle Fähigkeiten besitzen, uns zu ändern. Um 180°, von jetzt auf gleich.
„Flatten the curve“ – auch so ein Mantra, das in keinem Jahresrückblick fehlen darf. Es steht für den Kampf gegen das Virus. Dabei kann es aber genauso treffend den Kampf gegen die Klimaerhitzung verbildlichen. Obwohl die brutale Macht exponentiellen Wachstums nicht neu ist, brauchte es die Erfahrung täglicher Fallrekorde, um bloße Statistik begreifbar zu machen. Die Tragödie der Klima-Krise ist, dass sie trotz allem für die Mehrheit der Menschen abstrakt, global und unpersönlich bleibt. Klimaschutzpolitik bleibt eine Gratwanderung – zwischen dem, was notwendig ist und dem, was gesellschaftlich tragbar ist.
Im vergangenen Jahr wurde viel über Selbstbestimmung und Verantwortung in Zeiten der Krise diskutiert. Das Spannungsfeld zwischen persönlichen Freiheiten und gemeinsamen Klimaschutz macht auch an der Kirchenpforte nicht halt. Die Selbstbestimmung in unseren Kirchengemeinden ist eines der höchsten Privilegien unserer Gemeinschaft. Die Presbyter*innen in den Gemeinden gestalten, gleichberechtigt mit den Pfarrer*innen, die Kirche von unten. Sie sind enorm wichtig, aber sie machen nur die eine Hälfte des presbyterial-synodalen Systems aus. Den zweiten Pol bilden die Synoden, die Entscheidungen im Delegationsverfahren treffen. Maßnahmen, die die Gemeinschaft aller Gemeinden betreffen, sollten auch von der Gemeinschaft aller Gemeinden beschlossen werden. Maßnahmen zum Klimaschutz beispielsweise.
Im Laufe der Zeit ist die Wahl- und Gestaltungsfreiheit der Kirchengemeinden immer wieder unter Druck geraten. Zunehmend komplexere Aufgaben ruhen heute auf den Schultern von immer weniger Haupt- und Ehrenamtlichen. Die Richtigkeit von Ökostrom, Fahrrädern und energiesparenden Gebäuden wird zwar nirgendwo angezweifelt, ihre flächendeckende Einführung sprengt allerdings häufig die Kapazitäten der Verantwortlichen vor Ort. Oft fehlen schlichtweg Geld und Zeit dafür. Hinzu kommt, dass Klimaschutz zunehmend komplexer wird. Es reicht nicht mehr im Presbyterium Investitionen von 50.000€ für Klimaschutzmaßnahmen zu beschließen; zusätzlich müssen Nutzungskonzepte, Heizsysteme, Fördermittel, Gesetzestexte und Fachplaner recherchiert werden. Diese Kraftanstrengung kann nicht jede Kirchengemeinde selbst aufbringen. Sie braucht dabei die Unterstützung der Gemeinschaft.
Eine Aufwertung der kreis- und landeskirchlichen Ebenen beim Themenkomplex Klimaschutz kann eine Schlüsselrolle spielen bei dem Versuch, Kirche klimafit zu machen. Die Stärkung der Synoden muss dabei keine Schwächung der Presbyterien bedeuten, vielmehr profitieren beide Seiten voneinander. Für wirksamen Klimaschutz brauchen wir eine solide Finanzierung, einheitliche Standards und eine transparente Kommunikation. Ein Ansatz könnte ein kirchliches Klimaschutzgesetz sein, beispielsweise nach Vorbild der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland oder der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Beide Landeskirchen haben bereits Klimaschutzgesetze mit unterschiedlichen Finanzierungsmodellen verabschiedet. In der Nordkirche setzt man schon seit dem Jahr 2014 auf eine Zweckbindung von 0,8% der Zuweisungen in Kirchenkreisen und Landeskirche. In Berlin hingegen wurde im vergangenen Jahr eine CO2-Steuer verabschiedet. Egal um welches Finanzierungsmodell es sich handelt: Investitionen von heute werden dabei als Gestaltungsspielräume von morgen verstanden.
Die Evangelische Kirche von Westfalen hat auf ihrer Herbstsynode ihr ehrgeiziges Klimaschutzziel, Klimaneutralität bis 2040, noch einmal bestätigt. Diesem Ziel müssen jetzt Taten folgen – Klimaschutz kann und soll nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden. In den Worten von Präses Annette Kurschus: „Wir begreifen das als eine Aufgabe, die uns die zukünftigen Generationen stellen und als Ausdruck der Dankbarkeit für die Güte und Schönheit der Schöpfung. Wir sind beauftragt und begabt, sie zu bewahren. (…) Und: Es ist allerhöchste Zeit.“