Wenn Justitia weint

Ein gerechtigkeitstheoretischer Kommentar zu den Ergebnissen der Weltklimakonferenz

Nähme man Justitia, der römischen Göttin der Gerechtigkeit, die Augenbinde ab und konfrontierte man sie mit den Ergebnissen der diesjährigen „Afrikanischen“ Klimakonferenz im ägyptischen Sharm el Sheikh, man sähe vielleicht ein mildes Lächeln in den Mundwinkeln, aber sicher zwei bitterlich weinende Augen. Milde lächelnd, weil es am Ende doch noch gelungen ist, einen Prozess zur Entschädigung der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder zu initialisieren. Bitterlich weinend, weil es wieder nicht gelungen ist, die für den Schutz zukünftiger Generationen so dringend notwendige Verschärfung nationaler Klimaschutzanstrengungen umzusetzen, und weil weltweit weiterhin kein Ende der Nutzung klimaschädlicher fossiler Energieträger in Sicht ist. Nach zwei Wochen zähen Verhandlungen bei der Weltklimakonferenz COP27 und dem Ringen um eine zumindest gesichtswahrende Abschlusserklärung in den beiden Verlängerungstagen bleibt mehr (fossiler) Schatten als Licht der Gerechtigkeit. Aber was bedeutet denn Gerechtigkeit in der Klimapolitik? Hierauf gibt es vielfältige Antworten:
Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive geht es zunächst einmal um gerechte Verfahren, die dafür sorgen, dass beispielsweise klimapolitische Entscheidungen auf allen politischen Ebenen unter breiter Beteiligung möglichst aller gesellschaftlichen Anspruchsgruppen getroffen werden (Prozessgerechtigkeit). Das Paris-Abkommen mit seiner Beteiligung fast aller Staaten der Welt hat diesbezüglich bereits einen wichtigen Schritt nach vorn gemacht. Gleichwohl bleibt die tatsächliche Verhandlungsmacht ungleich verteilt. Ärmere, oft vom Klimawandel stark betroffene Staaten, finden weit weniger Gehör als die Hauptemittenten. Aber auch die Zivilgesellschaft muss ausgewogen am Prozess beteiligt werden, gerade auch um ein Gegengewicht zur fossilen Lobby in die Waagschale werfen zu können. Es erscheint in diesem Kontext bedenklich, dass die Summe aller Vertreter fossiler Industrien bei den Weltklimakonferenzen oft die größte Gruppe stellt, größer als die eines jeden verhandelnden Staates. Und gerade die ägyptische COP-Präsidentschaft hat eine uneingeschränkte, freie Meinungsäußerung der Zivilgesellschaft stark eingeschränkt. Dies darf sich bei der nächsten COP in Dubai nicht wiederholen. Und trotz des Anspruchs einer möglichst breiten Beteiligung am globalen Klimaverhandlungsprozesses sollte angesichts vielfältiger Blockaden im multilateralen Prozess die von der deutschen G7-Präsidentschaft initiierte Bildung sogenannter Klima Klubs vorangetrieben werden. Eine Koalition der Willigen sollte durchaus klimapolitisch vorangehen können, ambitioniertere Ziele verfolgen, Innovationen anstoßen und als gutes Beispiel auch für den Rest der Weltgemeinschaft agieren dürfen.
Doch Prozessgerechtigkeit allein genügt nicht, denn es geht auch darum, auf die konkreten Resultate klimapolitischer Verhandlungsprozesse zu schauen (Ergebnisgerechtigkeit). Diese dürfen eben nicht nur „bla, bla, bla“ bleiben, wie Greta Thunberg vor einem Jahr in Glasgow beklagte. Während der Glasgow-Klimapakt und begleitende Abkommen wie der Methan-Pakt noch weitgehend zurecht als Erfolg gefeiert wurden, ist die Bilanz von Ägypten weniger positiv. Es gelang, das 1,5 Grad Ziel am Leben zu halten, einen Prozess für einen Hilfsfonds für vom Klimawandel besonders betroffene Staaten zu etablieren und Initiativen wie die von Deutschland eingebrachte Wasserstoff-Initiative und die Joint Energy Transformation Partnership (JETP) mit Indonesien, einem der größten Kohleverstromer weltweit, zu starten. Aber: Die so dringend notwendige Konkretisierung und Verschärfung nationaler Maßnahmen ist nicht gelungen. Mit den aktuellen nationalen Klimaschutzplänen steuert die Weltgemeinschaft eher auf 2,5 Grad zu. Noch in Glasgow war beschlossen worden, dass binnen Jahresfrist ambitioniertere Klimaschutzpläne von den beteiligten Staaten vorgelegt werden müssten. Dies hatten aber bis zur COP in Ägypten nur 24 von 193 Staaten getan. Es wurde jetzt Aufschub bis zur nächste COP gewährt. Auch ein Beschluss zum Ausstieg aus der Nutzung der fossilen Energieträger Gas- und Öl scheiterte am Widerstand aus den Förderländern. Noch in Glasgow war es hingegen gelungen, zumindest für den klimaschädlichsten fossilen Energieträger Kohle eine schrittweise Verringerung der Nutzung zu vereinbaren. Spätestens in einem Jahr in Dubai müssen bei der geplanten Zwischenbilanz ambitioniertere nationale Umsetzungspläne auf den Tisch, und auch für die Gas- und Ölnutzung muss ein Ausstiegsszenario beschlossen werden. Es geht aber auch um Fragen der Leistungs- und Bedürfnisgerechtigkeit, also zum Beispiel darum, die Verursacher des Klimawandels an der Bewältigung der Klimawandelfolgen angemessen zu beteiligen und den Schutz der Lebensgrundlagen besonders vom Klimawandel betroffener Staaten und Regionen zu gewährleisten. Und hier ist ein historischer Durchbruch gelungen. Es wurde beschlossen, bis 2024 einen Fonds für klimabedingte Schäden und Verluste, z.B. aus zunehmenden Wetterextremen, einzurichten, die von Experten auf mehrere hundert Milliarden US Dollar bis 2030 geschätzt werden. Offen blieb dabei aber sowohl wer einzahlen muss als auch wieviel und wann. Besonders China wehrt sich hier vehement, als Industrieland definiert und damit vom Empfänger- zum Geberland zu werden. Und das von den Industriestaaten bereits gebrochene Versprechen von Kopenhagen, jährlich 100 Milliarden US-Dollar für den Klimaschutz und die Klimaanpassung in Entwicklungsländern bereit zu stellen, verheißt ebenfalls nichts Gutes für diesen Prozess. Um ihre Glaubwürdigkeit nicht vollends zu verlieren, müssen die Industrieländer nun schnellstmöglich nachliefern und dabei sicherstellen, dass der Fonds von den reichen Industrieländern und Großemittenten ausreichend mit frischen Finanzmitteln ausgestattet wird und diese als Schenkung und nicht als Kredit an die verletzlichsten Regionen und Bevölkerungsgruppen verteilt werden. Und es geht immer auch um inter- und intra-generationelle Gerechtigkeit, also um die Gerechtigkeit zwischen und innerhalb der Generationen, die schon in der Definition von Nachhaltigkeit im Brundtland-Bericht von 1987 angelegt ist. Ein effektiver Klimaschutz heute verringert eben nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer ökologischen Katastrophe, sondern schützt auch zukünftige Generationen vor existenzbedrohenden Kosten. Das Versagen der Mehrheit der Staaten, schon bei der COP27 ambitioniertere nationale Maßnahmenpakete zur Emissionsreduktion vorzulegen, verletzt damit das Gebot inter-generationeller Gerechtigkeit ebenso wie das Scheitern einer Ausstiegsperspektive für Gas und Öl. Und dies gilt auch für den Anspruch internationaler Gerechtigkeit, denn die Folgen des Klimawandels treffen eben besonders die Länder, die erstens historisch kaum zum Problem beigetragen haben und zudem auch heute noch zu den ärmsten Ländern gehören. Als Erfolg aus der Perspektive der internationalen Gerechtigkeit ist aber die Einigung auf einen Fonds zur Kompensation von Schäden und Verlusten zu werten. Aspekte der intra-generationellen, nationalen Gerechtigkeit wurden vor allem im Kontext der aktuellen Energiekrise tangiert, die neben dem Krieg Russlands gegen die Ukraine selbst und dem angespannten außenpolitischen Verhältnis zwischen China und den USA denkbar ungünstige Rahmenbedingungen für die COP27 schufen. Steigende Energiekosten und CO2-Preise setzen zwar Anreize zum Energiesparen und sind daher klimapolitisch wünschenswert, sie wirken aber regressiv und belasten damit ärmere Haushalte um ein Vielfaches stärker als wohlhabende. Sowohl die nationale als auch die internationale klimapolitische Debatte muss damit der sozial gerechten Rückverteilung des Aufkommens aus der CO2-Bepreisung besondere Aufmerksamkeit schenken. Neuere Studien betonen in diesem Zusammenhang vor allem die Vorteilhaftigkeit einer pro Kopf gleichen Rückverteilung einer Klima Dividende, eines Klima Bonus oder, wie die Ampel-Regierung es in ihrem Koalitionsvertrag bezeichnet hat, eines Klimageldes. Eine solche Rückverteilung von CO2-Bepreisungserlösen würde auch an ein gleiches Recht jedes Menschen auf die Nutzung von Umweltressourcen anknüpfen. Diese Debatte hat eine lange Tradition in der internationalen Debatte um Klimagerechtigkeit. Sie basiert auf einem modernen, differenzierten Verständnis des Gleichheitsprinzips, das gleiche Grundrechte-, Freiheiten und Chancen fordert, ökonomische und soziale Ungleichheit aber erlaubt, wenn und nur wenn sie den größten Nutzen für die Schwächsten stiftet. Umweltnutzungsrechte dürften danach sicherlich dem Gleichheitsgebot unterliegen. Sicher, global gleiche pro Kopf Treibhausgas-Emissionsrechte müssen angesichts dramatisch auseinandergehender tatsächlicher pro Kopf Emissionen politisch als utopisch gelten. Die konsequente CO2-Bepreisung mit pro Kopf gleicher Rückverteilung der Erlöse geht aber einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Das Konzept der Kontraktion und Konvergenz, also der Verringerung der globalen Emissionen bei gleichzeitiger Annäherung der pro Kopf Emissionen, bietet eine wichtige weitere Orientierung für einen global gerechten Klimaschutz auf Basis des Gleichheitsprinzips.
Nach der COP ist vor der COP. Für Dubai sind die Herausforderungen angesichts des rapide an Fahrt gewinnenden Klimawandels, des sich schließenden Zeitfensters für effektive Gegenmaßnahmen und der mageren Verhandlungsergebnisse von Sharm el Sheikh eher größer als kleiner. Und Justitia bleibt wachsam. Ihre drei zentralen Attribute Augenbinde, Waage und Richtschwert deuten an, was auch in der Klimapolitik dringend notwendig ist: Wirklich unparteiische Entscheidungen müssen nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage auf der Basis wissenschaftlicher Fakten getroffen und resultierende Ziele und Maßnahmen dann konsequent umgesetzt werden. Eine alljährliche Prüfung und ggf. Verschärfung von nationalen Reduktionszielen und Maßnahmenpaketen, der Ausstieg aus den fossilen Energien und die umfangreiche Kompensation von Klimaschäden in besonders betroffenen Ländern sind hier nur Beispiele. Nur so besteht die Chance, dass Justitia nach Abnehmen ihrer Augenbinde Mitte Dezember 2023 deutlich erfreuter auf die Verhandlungsergebnisse der COP28 in Dubai blickt und sich eine wirklich gerechte globale Klimapolitik durchsetzt.


Artikel von Dr. Sven Rudolph